In den vergangenen Wochen war wieder die Zeit der Konfirmationen. In den Zeitungen Fotos von adretten Konfirmandinnen und Konfirmanden. Eine Reihe sitzender Mädchen in festlichen Kleidern, meist in Schwarz, züchtig ausgeschnitten, das rechte Bein über das linke geschlagen, alle akkurat nach einer Seite ausgerichtet. Dahinter die Jungen im dunklen Anzug, ernst blickend, einige mit Blumen im Knopfloch. Daneben ein Pastor im Talar, bedeutsam guckend.
So richtig glücklich, fröhlich und unbeschwert sehen sie alle nicht aus. Wieso eigentlich nicht? Hat Gott etwas dagegen, dass dies ein heiterer, unbeschwerter Tag ist? Oder Jesus? Ob er etwas dagegen hat?
Im Radio höre ich die Kirchensendung. Eine Pastorin erzählt davon, dass sie ihren Konfirmanden einen Zettel mit verschiedenen Konfirmationssprüchen gegeben hat, davon oder direkt aus der Bibel sollten sie sich einen Spruch aussuchen. Eine Mutter erzählt, wie sie vor Rührung geweint hat, als ihre Tochter konfirmiert wurde.
Und wie war das vor ein paar Jahrzehnten bei mir? Erinnerungen.
Konfirmandenunterricht in einem Hamburger Vorort, Kinder aus gutbürgerlichen Elternhäusern. Der Pastor holte aus seiner Aktentasche 15 handgroße kleine Schachteln hervor. „Brot für die Welt“ stand mit roter Schrift auf dunklem Grund darauf. Die Schachteln hatten einen Schlitz und es handelte sich um Sammeldosen. Für die armen, hungernden Kinder in Afrika, dachte ich und stellte mir hungernde schwarze Kinder und viel Sand und Sonne und Löwen vor. Der Pastor erklärte dann, dass es sich nicht um Afrika handelt, sondern um Südamerika. Dort würde Armut und Elend herrschen. Und Ausbeutung. Ich war verwirrt. Von Südamerika hatte ich kein Bild im Kopf. Und was sollten wir nun machen? Der Pastor erklärte uns, dass jeder so einen Sammel-Pappkarton mit nach Hause nehmen muß und innerhalb seiner Familie Geld „für Südamerika“ sammeln soll. So kurz vor der Konfirmation müsse ja wohl in den Familien die Bereitschaft zur Spende für „Brot für die Welt“ vorhanden sein. In einem Monat wollte der Pastor die Kartons „gefüllt“ wieder zurück erhalten.
Geld für Südamerika innerhalb der Familie sammeln? Auf dem Nachhauseweg grübelte ich. Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Meine Mutter war nicht berufstätig. Sie bekam von meinem Vater abgezählt Haushaltsgeld. Damit wirtschaftete sie sparsam. Heute würde ich „geizig“ sagen. Sie rühmte sich, mit Geld gut wirtschaften zu können. Ihr Geiz nahm schon seltsame Formen an. Geschenkpapier wurde aufgebügelt. So konnte man mehrere Jahre lang zu Weihnachten Geschenke (billige Taschenbücher) immer wieder in das gleiche Papier einwickeln. In Lebensmittelläden wurden immer nur die Sonderangebote gekauft. Mein Vater rückte auch kein Geld heraus. Dort war auch nichts zu holen. Erst sehr viel später – nach seinem Tod – habe ich erfahren, dass mein Vater eine Geliebte hatte und alles Geld für ein „anderes Leben“ zur Seite legte. Da blieb natürlich kein Geld für die eigene halbwüchsige Tochter. Und als meine Mutter starb, stellte ich fest, dass sie in edlen Modegeschäften in der Hamburger City teuerste Markenkleidung gekauft hatte. Die Etiketten in der Kleidung in ihrem Kleiderschrank legten Zeugnis davon ab, weshalb wir faktisch wie eine Hartz IV-Familie lebten. Ein Viertel des Haushaltsgeldes wurde tatsächlich für den Haushalt ausgegeben. Ein weiteres Viertel brachte meine Mutter zur Bank. Vielleicht sparte auch sie für ein anderes Leben. Wer weiß. Die Hälfte des Haushaltsgeldes gab meine Mutter für ihr Outfit aus. Vom Feinsten. Schuhe von Bally, Markenkostüme, teure Edel-Markenkleidung, Mäntel, Pelze (damals trug Frau noch Pelz), Schmuck. Mir erzählte sie, sie habe die Sachen „spottbillig“ während einer Auktion erworben. Dass das gelogen war, habe ich erst Jahrzehnte später begriffen. Ich wollte es auch nicht wahr haben.
Ich selbst lief mit billigen Schuhen und Kleidung von Woolworth herum. Niveau Sozialhilfe oder Hartz IV. Aber damals habe ich das noch nicht begriffen. Damals war es in der Schule noch nicht wichtig, Markenkleidung zu tragen. Was halbwegs gut passte, war ok. Auch wenn die Schuhe so schlecht gearbeitet waren, dass sie nur ein halbes Jahr hielten und blutende Blasen an den Füßen hervorriefen, weil sie so schlecht gearbeitet waren. Meine Mutter lief derweil in handschuhweichen Bally-Markenschuhen nach der neuesten Mode. Aber das nahm ich als eine Selbstverständlichkeit hin. So und nicht anders kannte ich es.
Und nun kam ich also mit dieser Spardose von „Brot für die Welt“ nach Hause und berichtete meinen Eltern, was der Pastor gesagt hatte. Damals gab es ja noch nicht den Euro – zehn Mark waren damals so viel wie heute zehn Euro. Ich erwartete eigentlich, dass mein Vater einen Zehnmarkschein in diese Spardose steckte, oder wenigstens ein Fünfmarkstück. Aber ich hatte nicht mit meiner Mutter gerechnet. „Brot für die Welt?!“, „Südamerika?!“ zischte sie. Man solle doch gefälligst an die Armen im eigenen Land denken. Und dann – Südamerika. Dahin wären doch die ganzen alten deutschen Nazis geflüchtet und hätten dort ein feines Leben. „Keinen Pfennig bekommt der von mir“, verkündete sie. Mein Vater nickte. Basta. Thema durch.
Was sollte ich nun machen? Ich bekam nur 10 Mark Taschengeld im Monat. 5 Euro. Für 4 Wochen. Davon musste ich alles bezahlen, was ich mir kaufte. Süßigkeiten, auch mal Kosmetik. Und so kurz vor der Konfirmation wollte ich mir doch einen Lippenstift kaufen – und am besten auch Nagellack – und Nagellack-Entferner. Aber darauf musste ich nun wohl verzichten. Zugunsten der armen hungernden Kinder in Südamerika. Oder zugunsten der alten deutschen Nazis? Ich war ratlos. Der Tag der Abgabe der Sammeldosen rückte näher und schließlich steckte ich einen Zehnmarkschein – mein Taschengeld für einen Monat – hinein.
Der Pastor sammelte die kleinen Pappkartons „Brot für die Welt“ wieder ein. Zum Glück stand kein Name darauf. So konnte er nicht wissen, wer ihm was gegeben hatte. Dachte ich. Aber er war schlau und schüttelte die kleinen Sammeldosen und wog sie in der Hand. Die Kinder, die schwere Sammeldosen abgegeben hatten, erhielten ein Lächeln von ihm. Ich nicht. Und dabei hatte ich alles geopfert, was ich hatte. Nun gab es zur Konfirmation keinen Lippenstift und keinen Nagellack. Und dabei wollte ich doch so gern zur Konfirmation gut aussehen. Natürlich hatte meine Mutter mir ein furchtbares Konfirmationskleid gekauft. Eine Art Kostüm mit engem kniebedecktem Rock, nicht schwarz, nicht grau, so anthrazit. Schillernd. Glatter Stoff, aber keine Seide. Kunstfaser. Einmal hinsetzen und alles war verknittert. Grauenhaft. Im Oma Look. Ich sah darin aus wie eine alte Frau aus der Provinz. Dazu Schuhe aus schwarzem Samt – „damenhaft“ – grauenhaft. Dann wollte ich doch wenigstens im Gesicht und an den Händen hübsch sein.
Die Konfirmationssprüche wurden abgefragt. Ich hatte ratlos in der Bibel geblättert und mal hier, mal da etwas gelesen. Gott würde mir schon einen Fingerzeig geben, was ich auswählen sollte. Aber er blieb stumm. Keiner der Sprüche rief irgend etwas in mir hervor. Sie schienen alle nicht für mich bestimmt. Da war kein „Das ist es“. Ich hatte felsenfest gedacht, so ein Konfirmationsspruch würde von Gott geschickt werden, hätte mit ihm zu tun. Nun blieb Gott stumm und der schließlich von mir ausgewählte Spruch hatte nur etwas damit zu tun, dass ich ja irgend etwas nehmen musste. Er war faktisch ohne Bedeutung für mich. 14 Tage vor der Konfirmation wurden die Konfirmationssprüche eingesammelt. Sie sollten fein auf Büttenpapier gedruckt werden. OK, dachte ich mir. Schade, dass wird für mich keine Bedeutung haben.
Drei Tage vor der Konfirmation befragte uns der Pastor nach dem erlernten Wissen über Gott, Jusus, die Kirche, die Gemeinde und das Christentum. Alle abfragbaren Fakten hatte ich parat. Und ein paar Gedanken dazu. Der Pastor fragte jeden einzelnen Konfirmanden, weshalb er sich konfirmieren lassen will. „Um ein vollwertiges Mitglied der Gemeinde zu sein“ sollte die Antwort lauten. Als die Frage an mich gerichtet wurde, sagte ich: „Das weiß ich auch nicht.“ Der Pastor runzelte die Stirn. „Warum willst du dich konfirmieren lassen?!“ er guckte mich fast drohend an. Ja wieso eigentlich? Ich wollte Gott näher kommen. Aber im Konfirmandenunterricht hatte ich ihn nicht gefunden. Da war er nicht. Vielleicht war er irgendwo in der Kirche. Ich hatte auf irgend ein spirituelles Erlebnis gehofft. Aber alle Gefühle waren von der Sache mit der Sammeldose überschattet. Der Pastor wurde ungeduldig. „Ich warte nicht ewig, willst du dich nun konfirmieren lassen oder nicht?!“ Ich starrte ihn an. Das glaubte ich jetzt nicht. Güte, Verständnis, Milde, Liebe hatte ich von einem Pastor erwartet. „Ich mache das nur wegen der Geschenke“ stieß ich hervor. Das war nicht richtig. Ich wußte es selbst. Ich hatte Gott gesucht und noch nicht gefunden. Wir lebten zu Hause wie eine Hartz IV Familie – ich erhielt auch zum Geburtstag und zu Weihnachten kaum Geschenke. Aber zur Konfirmation. Stellte ich mir vor. Aber die Antwort war natürlich ganz falsch. Schweigen wäre besser gewesen. Oder lügen.
Der Pastor war sauer und wütend. Er brüllte mich an. Jemand wie mich sollte man nicht konfirmieren. Ich wäre eine absolute Zumutung. Ich schaltete ab. Hörte nicht mehr zu. Die Worte rauschten an mir vorbei.
Der Tag der Konfirmation kam. Vorn in der Kirche die Konfirmanden, hinten die Eltern. Stress, Frust, Aufregung zu Hause, ich mit furchtbarer Frisur, der billigste Friseur im Stadtteil hatte mir meine langen, glatten Haare abgeschnitten, eine Dauerwelle verpasst mit Locken wie eine alte Frau, aber Geschmack meiner Mutter. Ich in dem schillernden, knitternden Kostümchen aus Kunststoff. Mit den damenhaft-grauenhaften Schuhen (Sonderangebot), in denen ich hin- und herrutschte. Strümpfe, die irgendwie um die Knöchel Falten warfen. Ich zog sie verstohlen hoch. Die Mistdinger saßen nicht richtig. Falsche Größe – oder Billigangebot – logisch. Billigangebot im Supermarkt – von meiner Mutter gekauft. Der feierliche Gottesdienst. Der Pastor erklomm die Kanzel. Salbungsvolle Worte, dann kam er auf den Konfirmandenunterricht zu sprechen. Es gäbe Konfirmanden, die würden sich „nur wegen der Geschenke“ konfirmieren lassen. Damit war ja ich gemeint. Ich schreckte zu zusammen. Wieso und warum eigentlich wurde ich hier und jetzt konfirmiert? Der Pastor oben auf der Kanzel redete sich in Rage. Wetterte. Alle Konfirmanden wussten, dass ich gemeint war. Ich presste die ungeschminkten Lippen zusammen und presste die unlackierten Nägel in die Handinnenflächen. Irgendwann ging auch diese Predigt zu Ende.
Die Konfirmanden sollten nach vorn kommen. Ich saß am Ende der Reihe noch ganz benommen. Plötzlich waren schon alle vorn am Altar. Ich rappelte mich noch und lief in Laufschritt hinterher. Niederknien, Segen, Konfirmationsspruch in die Hand. Das war es.
Auf dem Heimweg (zu Fuß natürlich, Benzin sparen!) schwiegen sich meine Eltern an. Dann fing meine Mutter an, mir Vorwürfe zu machen. „Man rennt nicht in der Kirche“. Das hätte nicht gut ausgesehen, wie ich da hinter den anderen hergehastet sei. Vorwürfe. Ich war also wieder nicht ok. Versagt. Zum Glück wussten meine Eltern nicht, dass ich in der Predigt von der Kanzel gemeint war. Mir war es peinlich. Ich hatte mich also in der Kirche daneben benommen. Ich hatte versagt.
Zu Hause angekommen hatte meine Großmutter das Mittagessen zubereitet und eine ältere Freundin meiner Mutter war erschienen. Das war mein Konfirmationsbesuch. Und dann klingelte es und der Pastor stand in der Tür. Meine Eltern hatten ihn zum Mittagessen eingeladen. Es wurde höfliche Konversation gemacht. Kein Wort über die Sammeldose „Brot für die Welt“, kein Wort über die Nazis in Südamerika, kein Wort über Kinder, die sich nur wegen der Geschenke konfirmieren ließen. Als sei nichts geschehen. Als sei alles gut.
Die erhofften Geschenke gab es in dem Sinne nicht. Mein Vater sagte mir, er hätte auf mein Sparbuch 50 Mark eingezahlt. Das Sparbuch bekäme ich, wenn ich volljährig bin. Also mit 21. Lange hin. Somit waren die 50 Mark für mich bedeutungslos. Meine Großmutter schenkte mir eine Packung selbst umhäkelter Taschentücher – mit Spitze. Die habe ich immer noch und sie liegen noch in der Originalverpackung. Meine Mutter schenkte gar nichts – schließlich war der Verlust von 50 Mark zu verschmerzen, die ich und nicht sie bekommen hatte. Die Freundin meiner Mutter schenkte mir ein christliches Erbauungsbuch. Ansonsten schickten einige Tanten und Onkel christliche schwarz-grau-weiße Glückwunschkarten zur Konfirmation – mit christlichen Sprüchen. Aber es lag kein Geldschein dazwischen. Vermutlich waren sie beleidigt, weil sie von meinen Eltern nicht zur Feier eingeladen worden waren.
Was war also die Bilanz. Gott, der sich irgendwie nicht zu erkennen gegeben hatte. Ein Konfirmationsspruch, den ich heute vollkommen vergessen habe und dessen Urkunde vermutlich von meiner Mutter weggeworfen wurde. Ein Pastor, der mich konfirmierte, obwohl er das eigentlich nicht wollte und nach wie vor sauer auf mich war. Aber bei uns zu Hause am Eßtisch saß und mit meinen Eltern plauderte. 50 Mark auf dem Sparbuch – aber erst in vielen Jahren Zugriff darauf. Umhäkelte Taschentücher. Ein christliches Erbauungsbuch.
Als Jahrzehnte später meine Mutter starb, schenkte ich ihre Kleidung und die Pelze dem Roten Kreuz. Für den Schmuck mietete ich 2 Bankfächer. Dort liegt er nun seit vielen Jahren unberührt. Mein Vater hat seine Geliebte nie geheiratet. Das ersparte Geld habe ich geerbt. Es hätte für den Kauf mehrerer Eigentumswohnungen gereicht. Aber es machte mich nicht wirklich froh.
Der Pastor wird nicht mehr leben.
Und Gott habe ich dann später doch noch gefunden. Auch ohne Pastor.
danke für diesen – wenn auch bitteren – Erfahrungsbericht. Ich kann mich auch noch daran erinnern, wie wir von den eltern dazu erzogen wurden, dem pfarrer ja die richtigen antworten zu geben. von den eltern habe ich zur kommunion auch kein geschenk in dem sinne bekommen. hab sie danach gefragt. sie haben geantwortet, dass sie ja die feier bezahlen. und in der tat, war es ne große feier: mein wunschmenü. ein neunjähriger darf sich aussuchen, was es zum essen gibt. ich erinnere mich heute noch an diese super erdbeertorte. und wir haben zwei tage lang gefeiert. und die nicht geladenen entfernten verwandten haben kuchen gebracht bekommen. mir ging es ziemlich gut.
im reliunterricht nach der erstkommunion mußten wir auf einen zettel die wichtigsten geschenke schreiben. meine antwort war klar: 1. die heilige kommunion. 2. die feier 3. eine uhr und einen Globus… <– diese antwort habe ich bis heute nicht bereut.
God bless you. Ihr Ulrich